“Demokratie unter Bäumen”- oder die andere Eröffnung des Kantonsrats

Wenn der Grosse Rat des Kantons Waadt die erste Sitzung einer neuen Legislatur abhält, versammeln sich die neugewählten Abgeordneten und der Staatsrat in corpore in der Kathedrale von Lausanne zum Gottesdienst. Zum Eröffnungsakt gehört auch eine Prozession durch die Stadt, bevor alle Gewählten einzeln vereidigt und auf die Verfassung eingeschworen werden.
So pompös geht es in Zürich nicht zu (auch wenn eine Prozession vom Grossmünster an den Bullingerplatz eine amüsante Vorstellung ist). Dennoch existiert auch bei uns die langjährige Tradition, jedes neue Amtsjahr – also nicht nur alle vier Jahre – mit einem Gebet zu beginnen.
Dieses Gebet gestalten die fünf anerkannten Religionsgemeinschaften jeweils gemeinsam. Es findet stets vor der Eröffnungssitzung des Kantonsrats statt, seit dem Umzug des Parlaments an den Bullingerplatz in der Katholischen Kirche St. Felix und Regula (den Zürcher Stadtheiligen!), die mir persönlich sehr gefällt.
Das diesjährige Gebet stand unter dem Titel “Demokratie unter Bäumen”. Wer sich unter diesem Titel nichts vorstellen kann: Mir und vermutlich den meisten anderen ging es ebenso.
Erneut haben es die Verantwortlichen jedoch geschafft, eine Stelle aus dem Alten Testament (Die Jotamfabel Richter 9,8-15) auf vielschichtige Weise auszulegen und mit aktuellen Entwicklungen in Staat und Gesellschaft zu verknüpfen. Ich war einmal mehr begeistert. Unter uns: Wenn dies die Qualität der Sonntagspredigten wäre, die Kirchen wären jeden Sonntag voll.
Da ich es in der Vergangenheit immer bedauert habe, die Gedanken nicht nachlesen zu können, fragte ich nach – und habe alle Texte erhalten. Vielen Dank an Rabbiner Noam Hertig, Kirchenratspräsidentin Esther Straub, Generalvikar Luis Varandas und Pfarrerin Denise Wyss für die Gestaltung des Gebets und die ebenso treffenden wie aufbauenden Worte.
Wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre!